Gastbeitrag
Digitale Transformation

Wir brauchen endlich ein Ende der digitalen Romantik

Die Zeit des heiteren Vor-Sich-Hin-Digitalisierens ist endgültig vorbei. Wer morgen noch mitspielen will, muss sich radikal verändern und sein Unternehmen kernsanieren. Doch zu häufig begnügen sich Entscheider mit einem Fassadenanstrich, anstatt die tieferliegenden Probleme anzupacken – mit verheerenden Folgen.

Als Unternehmer gibt man Geld nicht zum Spaß aus – man gibt Geld aus, um damit kurz-, mittel- oder langfristig mehr Geld zu verdienen. Diese simple Grundregel unternehmerischen Handelns gerät jedoch beim bedeutungsüberfrachteten Vor-Sich-Hin Digitalisieren zuweilen aus dem Blick. Dann werden Hunderttausende in hübsche Frontends gesteckt, absurde Social-Media-Aktivitäten initiiert oder teure Tools um der teuren Tools willen eingeführt.

Warum das alles passiert, weiß zwar am Ende keiner so genau, was es bringen soll, erst recht nicht, doch irgendwie herrscht heimelige Freude darüber, dass immerhin irgendetwas passiert ist. Digitalisierung hat zu häufig etwas von einer waldorfpädagogischen Grundschule, in der man sich zunächst einmal daran erfreut, dass Kinder überhaupt Spaß am Schreiben haben, auch sie es nicht ganz korrekt tun.

Pädagogisch mag das streitbar sein – unternehmerisch ist es der sichere Weg in den Untergang. Wir brauchen schleunigst ein Ende der digitalen Romantik, ein Ende all der Augenwischerei und leeren Worthülsen. Digitalisierung ist kein Selbstzweck. Sie muss im unternehmerischen Sinne dazu dienen, entweder Bestehendes effizienter zu machen, ergo weniger auszugeben, oder Neues – beispielsweise Geschäftsmodelle oder Absatzkanäle – zu erschließen, ergo mehr zu verdienen. Ist nichts der beiden zumindest mittelbar gegeben, sollte jeder Entscheider misstrauisch werden und sich fragen, wofür hier gerade eigentlich Millionenbudgets verfeuert werden.

Die Zeit der bunten Testballons ist vorbei

Die vergangene Dekade muss jedem Unternehmer eine eindringliche Lehre sein. Sie hat gezeigt, wie in unzähligen Industrien einst unangefochtene Weltmarktführer binnen weniger Jahre von der Landkarte radiert wurden, während die Plattformgiganten aus dem Silicon Valley mit einem Fingerschnips die Machtarchitektur ganzer Märkte auf den Kopf gestellt haben. Längst greifen Google, Apple und Co. auch die einst uneinnehmbaren Bastionen etwa der Automobil- oder Finanzwirtschaft an – und die Chancen stehen nicht schlecht, dass die alten Platzhirsche dem wenig entgegensetzen können.

Für jeden Konzern, für jeden Mittelständler, für jeden Kleinunternehmer gilt daher: Wer im Morgen noch mitspielen will, muss sich jetzt wirklich strecken. Die Zeit des spielerischen Ausprobierens ist vorbei. Die Dinge müssen sich radikal verändern – und zwar sofort.

Neue Wettbewerber nutzen althergebrachte Ineffizienzen gnadenlos aus

Das Problem dabei: Je größer die Organisation, desto ausgeprägter ist häufig die Trägheit, desto mehr wird Verantwortung von links nach rechts und wieder zurück delegiert. In vordigitalen Zeiten waren Verwaltungsstarre und Selbstbespiegelung über Jahrzehnte hinweg erfolgsunkritisch: Kilometerhohe Markteintrittsbarrieren aus proprietärem Wissen und enormen Investitionskosten beschützten den Status Quo. Egal ob ein Unternehmen Autos, Duschgel oder Pralinen produzierte – es konnte sich Gemütlichkeit und Ineffizienz leisten. Der Grund dafür: Die Wettbewerber waren schlicht genauso ineffizient, ein Kampf mit stumpfen Schwertern.

Doch inzwischen sind die Messer gewetzt: Radikal gesunkene Markteintrittsbarrieren, neue digitale Geschäftsmodelle und Zugang zu immer mehr Wagniskapital versetzen aufstrebende neue Wettbewerber in die Lage, mit scharfer Klinge überall dort anzusetzen, wo sich die alten Schlachtschiffe noch immer im Glanz eines längst vergangenen Gestern sonnen.

Digitalisierung ist Chefsache

Früher lag vor jeder genaueren Untersuchung von Wertschöpfung und Effizienz eine kaum durchsichtige Milchglasscheibe, hinter der sich nur erahnen ließ, wo tatsächlich Geld verdient und wo Geld verbrannt wurde. Heute sind wir dank Daten und Algorithmen in der Lage, jeden Winkel einer Organisation auf seine Leistungsfähigkeit, auf seine ökonomische Relevanz hin zu prüfen – und zu verändern. Für Unternehmen bedeutet dies die Chance zu einer umfassenden Kernsanierung, um verloren gegangene Wettbewerbsfähigkeit schleunigst wiederherzustellen. In der Praxis steht jedoch statt der nötigen Kernsanierung häufig bloß ein Fassadenanstrich.

An dieser Stelle kommt die Heerschar der aktionistisch mandatierten Berater ins Spiel. Doch der Markt der Digitalberater, Thought Leader, Keynote-Speaker und Wanderprediger ist – um im Sprachbild zu bleiben – leider voll von talentierten Malermeistern, die allzu gern morsche Kulissen mit neongreller Buzzwordfarbe anstreichen, während sich der Schimmel tief ins Gebälk frisst und das Gebäude bald zum Einstürzen bringen wird.

Damit dies nicht geschieht, braucht Digitalisierung bei allen Bottom-Up-Freiheiten klare Führung und Verantwortlichkeit. In viel zu vielen Unternehmen liegen viel zu viele Digitalbudgets in viel zu vielen, viel zu falschen Händen. Damit muss Schluss sein, ein für alle Mal. Digitalisierung ist die wichtigste Herausforderung für jedes einzelne Unternehmen – ihre Bewältigung entscheidet darüber, wer in Zukunft noch mitspielen darf und wer nicht.

Diese Aufgabe ist so elementar erfolgskritisch, dass nicht die Marketingabteilung, nicht die IT-Abteilung, nicht die Personalabteilung und nicht die Kommunikationsabteilung dafür Sorge tragen können. Digitalisierung ist Chefsache – Punkt, Ende, Aus. Sie muss ressortübergreifend von zentraler Stelle gesteuert und im langfristigen Sinne der gesamten Organisation gedacht und gemacht werden. Sie braucht weitsichtiges Leadership, nicht im überholt-patriarchalischen Sinne, sondern moderierend, mutig, transparent und doch klipp und klar.

Digitalisierung braucht flächendeckendes Unternehmertum

Führung ist die Grundlage, doch die Kernsanierung einer eingerosteten Organisation erfordert ein noch tieferes Umdenken, das über die Zuständigkeitszuteilung auf Vorstandsebene weit hinausgeht. Eine leistungsfähige Organisation im digitalen Zeitalter braucht eine flächendeckende Kultur der Eigenverantwortung, um die eingeschliffenen Ineffizienzen zu überwinden. Digitalisierung bedeutet Verantwortung zu übernehmen, auf jeder Ebene, von jedem Einzelnen.

Von Kopf bis Fuß, von Vorstand bis Pförtner, gilt es unternehmerisch zu denken, um sich neuem Wettbewerb zu erwehren, um zu überleben. Wir müssen unsere Mitarbeiter zu Mitunternehmern machen. Dazu brauchen wir gänzlich andere Formen der Incentivierung, der Kommunikation und der Zusammenarbeit, die alle darauf abzielen, dass jeder Einzelne unternehmerische Verantwortung für das große Ganze übernimmt – nicht widerwillig, sondern motiviert durch klare Anreizsysteme und neue Gestaltungsfreiheit.

Kernsanierung statt Fassadenanstrich

An all die Unternehmer und Entscheider da draußen: Ihr gebt unsagbar viel Geld für Irgendwas-mit-Digitalisierung aus. Das ist gut und recht. Aber wenn ihr es schon ausgebt, dann doch wenigstens sinnvoll und nicht bloß für Dinge, die nur an der Oberfläche kratzen. Baut digitale Produkte, die wirkliche Probleme lösen. Übersetzt Prozesse nicht einfach in eine digitale Maske, sondern macht sie Kraft digitaler Möglichkeiten besser, schneller, einfacher, zugänglicher. Macht eure Mitarbeiter zu Mitstreitern eurer Sache, macht sie durch neue Anreizsysteme zu euren Mitunternehmern. Scheut euch nicht davor, in großen Linien zu denken und zu handeln. Spart euch den Fassadenanstrich – es wird nichts nutzen. Investiert lieber in eine Kernsanierung.

Im Original in der Wirtschaftswoche erschienen: https://www.wiwo.de/unternehmen/it/kernsanierung-statt-fassadenanstrich-wir-brauchen-endlich-ein-ende-der-digitalen-romantik/24063510.html


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